Donnerstag, 06. Juni 2019

Neu, besser, anders

Die Start-up-Szene der Metropole Ruhr punktet im B2B-Bereich

„Ein Start-up zu gründen heißt, den Fuß auf dem Gaspedal zu halten. Und genau dafür bietet das zur Metropole Ruhr aggregierte Ruhrgebiet den nötigen Freiraum“, weiß Oliver Weimann. Er ist Geschäftsführer des ruhr:HUB, des zentralen Treffpunkts für die digitale Wirtschaft der Region. Seit ein paar Jahren boomt die Start-up-Szene in Deutschlands größtem Ballungsraum und hat sich inzwischen an Berlin herangepirscht. Der Schlüssel zu diesem Wandel: B2B-Start-ups, die die Geschichten der Zukunft schreiben wollen und mit den Konzernen und großen Mittelständlern der Region die potenziellen Kunden direkt um die Ecke haben. Im Gespräch erklärt Oliver Weimann die Besonderheiten der Start-up-Szene in der Metropole Ruhr.

Herr Weimann, auf der einen Seite gilt das Ruhrgebiet als wirtschaftliches Sorgenkind, auf der anderen Seite boomt die Start-up-Szene. Wie passt das zusammen?

Oliver Weimann: Wir dürfen nicht vergessen, dass die Metropole Ruhr, wäre sie ein eigenes Bundesland, auf Platz fünf im Ranking der wirtschaftsstärksten Länder stehen würde – spürbar vor den Metropolregionen Berlin und Hamburg. Es gibt so viele Jobs wie seit fast 40 Jahren nicht mehr. Die Vielfalt der Nationalitäten in unserer Region steht für eine Offenheit in viele Richtungen und der gesamte europäische Markt liegt quasi in Griffweite. Wir verfügen über eine intakte, wachsende Wirtschaft. In der Metropole Ruhr haben viele große produzierende Unternehmen und nicht zuletzt einige der größten Unternehmen Deutschlands ihren Sitz. Flankiert von der dichtesten Hochschullandschaft Europas. Das alles ist ein spannender Nährboden für die Start-up-Szene.

Die Start-up-Szene entwickelt sich im Schatten der großen Unternehmen?

Weimann: Was Sie Schatten nennen, würde ich als Licht bezeichnen. Immer mehr Studierende sehen Start-ups zum Glück als Option oder Chance – egal ob als Gründer oder einer der ersten Mitarbeiter. Und sie bleiben dann natürlich auch hier, da sie ein funktionierendes persönliches Netzwerk aufgebaut haben. Alle Unternehmen – ob groß, mittel oder klein – stehen heutzutage unter erheblichem Innovationsdruck, auch durch die voranschreitende Digitalisierung. Wenn schnell und agil an Lösungen gearbeitet werden soll, sind Start-ups oft im Vorteil, weil sie sich erstmal nicht um sich selber drehen müssen.

Aber lassen sich große Industriekonzerne denn auf die Start-up-Szene ein?

Weimann: Ja und nein! Ja, weil es für viele eine spannende und effiziente Form ist, um Innovation ins Unternehmen zu holen und gleichzeitig einen Kulturwandel anzustoßen. Bei der Beyond Conventions im Februar 2019 haben unter anderem thyssenkrupp oder Aldi Süd, aber zum Beispiel auch die Emschergenossenschaft ihre konkreten digitalen Herausforderungen definiert. Auf diese sogenannten Challenges haben sich Start-ups von allen fünf Kontinenten mit ihren individuellen Lösungen beworben. Am Ende standen 22 Siegerteams fest, die mittlerweile über 30 Pilotprojekte gestartet haben. Nein, da für andere etablierte Unternehmen die Start-up-Aktivitäten eher Lippenbekenntnisse sind. Grundsätzlich nimmt jedoch die Bedeutung von B2B-Start-ups für die großen Player signifikant zu.

Und der Mittelstand bleibt auf der Strecke?

Weimann: Die Themen im Mittelstand sind aktuell oft andere: Die Freude über volle Auftragsbücher führt zu beschränkten personellen Ressourcen, begleitet vom Fachkräftemangel. Da muss sich die digitale Transformation auch mal hinten anstellen. Automatisierung in der Produktion ist ein alter Hut, aber heutzutage gilt es, die kompletten Unternehmen zu transformieren. Hier wird aus meiner Sicht viel Potenzial verschenkt bzw. die Risiken der Zukunft werden nicht hoch genug eingeschätzt. Ein erster Schritt sollte sein, aktiv eine Strategie auszuarbeiten und zumindest die Grundlagen für die nächsten Schritte zu legen, wie etwa die Erhebung von strukturierten Daten und Ähnliches. Hinzu kommt natürlich ein Mangel an entsprechenden Kompetenzen im Haus sowie teilweise die Nachfolgethematik. Die Geschwindigkeit, in der da draußen Zukunft geschrieben wird, nimmt auf jeden Fall kontinuierlich zu.

Zurück zu den großen Unternehmen. Die betreiben ja meist selbst ein intensives Innovationsmanagement. Wozu brauchen die dann noch Start-ups?

Weimann: Wir definieren diesen Bereich als IndustrialTech. Hierunter fallen alle technischen B2B-Lösungen, zu finden in den Bereichen Augmented und Virtual Reality, Business Intelligence, Artifical Intelligence/maschinelles Lernen, Sensorik, Robotik – alles industrienahe Anwendungen, die etablierten Unternehmen helfen, Prozesse effizienter zu gestalten oder neue Services anzubieten.

Start-ups haben im Vergleich zu großen Unternehmen einen unfassbaren Nachteil: Sie verfügen kaum über Ressourcen – weder personell noch finanziell. Diesen faktischen Nachteil machen sich Start-ups zunutze und schaffen kreative Lösungen, fernab von politischen Grabenkämpfen oder Grundsatzentscheidungen. Wenn hierzu jetzt noch grundlegende Ideen aus wissenschaftlichen Instituten oder den Hochschulen kommen, dann entsteht eine Mischung mit großem Potenzial. Wichtig war und ist, dass diese Teams unterstützt und immer wieder hinterfragt werden und aus der technologischen Idee ein Geschäftsmodell entwickelt wird. So entsteht ein sogenannter Sweet Spot für Start-ups, was zu potenziell wachstumsstarken Unternehmen führen kann.

Beschränkt sich die Stärke der Region auf die Nähe zur Industrie?

Weimann: Drei weitere Themenbereiche spielen weit über die Grenzen der Metropole Ruhr hinaus eine bedeutende Rolle für die Region: zuvorderst das Thema Cyber Security! Aus dem Horst-Görtz-Institut in Bochum stammen inzwischen knapp 50 Prozent aller Hochschulabsolventen für IT-Sicherheit in Deutschland. Hinzu kommt überdies das Institut für Internetsicherheit if(is) an der Westfälischen Hochschule in Gelsenkirchen. Um die in den letzten fast 20 Jahren gegründeten und erfolgreichen Start-ups aus dem Bereich Cyber Security wurde mit Cube5 ein spezialisierter Anlaufpunkt für deren Nachfolger gegründet. Hier ist ein Nukleus und damit ein gutes Vorbild dafür entstanden, was eine starke Community bewirken kann.

Daneben ist die Metropole Ruhr ein starkes Gesundheitscluster, sodass das Thema E-Health an vielen Ecken Früchte trägt. Mit opta data und Bitmarck befinden sich zwei Schwergewichte im Bereich Gesundheitsdaten in der Region. Die Kliniken hier zeigen großes Interesse an der Kooperation mit Start-ups. Und schließlich ist der Bereich Environmental Tech zu erwähnen, der sowohl das Thema Recycling als auch die breite Themenvielfalt von Smart Mobility, Transformation der Energieversorgung oder Smart City umfasst.

Apropos Environment: Was für ein Umfeld finden Start-ups in der Metropole Ruhr vor?

Weimann: Start-ups sind junge Unternehmen, die in aller Regel eine digitale Komponente aufweisen. Diese Teams brauchen den aktiven Austausch untereinander, Mentoren und Rollenvorbilder, Zugriff auf Talent, Zugang zu Kunden und natürlich Geld. Auch mal eine Idee vor die Wand zu fahren, ist hierbei „part of the game“, ganz nach dem Motto „Fail fast“.

In den letzten Jahren hat sich eine echte Start-up-Szene entwickelt, die auch durch bereits erfolgreiche Gründer als Mentoren und Rollenvorbilder getragen wird. Der Zugang zu potenziellen Kunden ist aufgrund der regionalen Nähe gut, könnte manchmal in Bezug auf die Mentalität aber noch schneller sein. Aber daran arbeiten wir. Ganz besonders der Zugang zu Talenten ist im Vergleich zu anderen Regionen jedoch hervorragend! Die Hochschulen der Region legen einen immer stärkeren Fokus auf die Entrepreneurship-Ausbildung und unterstützen Gründungsvorhaben. So beschäftigen sich zum Beispiel die TU Dortmund sowie die Ruhr-Uni Bochum aktuell intensiv mit der Etablierung von sogenannten Excellence-Start-up-Centern, um den Transfer von Forschung in Gründungen massiv auszubauen. Darüber hinaus unterstützen lang etablierte Formate wie der Senkrechtstarterwettbewerb oder Start-to-grow die Entwicklung der Szene. Diese Formate werden zudem immer wieder neu auf die sich wandelnden Bedürfnisse ausgerichtet.

Das alles in Zahlen zu fassen, ist schwer. Ich vermute, dass hier in der Region momentan zwischen 400 und 500 Teams unter dem Begriff Start-up zu subsumieren sind. Dies sind mit den Multiplikatoren und Mentoren aus Unis, etablierten Unternehmen und Beratungen bestimmt 5.000 Köpfe.

Wie profitiert die wirtschaftliche Entwicklung der Region von den Start-ups?

Weimann: Start-ups sind sicher nicht das Allheilmittel der Wirtschaftspolitik, zu dem sie manchmal stilisiert werden. Allerdings bieten Start-ups drei wesentliche Vorteile, die sich extrem positiv auf die wirtschaftliche Entwicklung einer Region auswirken: Erstens sind Start-ups Arbeitgeber, schaffen neue und häufig hochqualifizierte Arbeitsplätze. Zweitens tragen besonders die Start-ups unserer Region mit ihren B2B-Lösungen maßgeblich dazu bei, etablierten Unternehmen bei der digitalen Transformation zu helfen. Und schließlich machen Start-ups eine Region für junge, hochqualifizierte Menschen attraktiv.

Wir sind eine urbane Region der kurzen Wege, in der sich Menschen mit einem ähnlichen Mindset schnell treffen und austauschen können, um gemeinschaftlich Ideen nach vorne zu bringen. Hierfür brauchen wir Start-ups und ich bin sehr froh, dass wir mittlerweile auf eine interessante Szene zurückgreifen können.

Eine solche Szene braucht auch Kapital.

Weimann: Wir hatten jetzt zwei, drei Jahre, in denen relevante Kapitalinvestitionen auch ins Ruhrgebiet geflossen sind. Trotzdem ist dies im Vergleich zu Berlin oder München, vor allem aber im Vergleich zum Silicon Valley oder Tel Aviv einfach noch viel zu wenig. Die Family Offices entdecken die Asset-Klasse „Start-up“ doch nur recht zögerlich. Hier muss definitiv noch etwas passieren. Aus diesem Grund nutzen wir Top-Start-ups, um sie den Investoren vorzustellen, und Events wie den RuhrSummit, um Venture-Capital-Geber einzuladen und vom Standort Ruhrgebiet zu überzeugen.

Die ganz großen Deals passieren aber noch nicht im Ruhrgebiet?

Weimann: Die haben wir in Deutschland sowieso nicht so häufig. Das liegt an mehreren Faktoren, unter anderem daran, dass Gründer bei uns häufig nicht direkt exitgetrieben sind. Vielleicht wollen wir manchmal eher etwas schaffen, das wir unseren Kindern vererben können. Um einen Venture Case zu entwickeln, braucht es eben Gründer, die mit Haut und Haar Risiken eingehen und alles für schnelles Wachstum tun. Wir brauchen Business Angels und andere Investoren in frühen Phasen, die bei den Investitionsentscheidungen primär die Zukunft und nicht die Gegenwart bewerten. Und wir brauchen ein Investitionsumfeld, das das Risiko reflektiert und Abschreibungen unkompliziert ermöglicht.

Wir können in der Metropole Ruhr jetzt ein paar Investoren begrüßen, die ihre Erträge wieder in neue Start-ups stecken. Mit TEV – Tengelmann Ventures – ist überdies einer der größten deutschen Venure-Capital-Geber in Essen ansässig. Positive Signale sendet auch die Schaffung des Gründerfonds Ruhr durch die NRW.BANK und einige große Corporates der Region. Hier stehen über 30 Millionen für direkte Start-up-Investitionen zur Verfügung. Und der von eCapital aufgelegte Cyber-Security-Fonds wird ebenfalls mit großer Wahrscheinlichkeit einen Teil seines Volumens aufgrund des Themenfokus in der Region investieren. Die Entwicklung geht also in die richtige Richtung, auch wenn wir momentan noch mit Start-ups auf Reisen gehen, um sie den Investoren außerhalb der Region vorzustellen.

Die Metropole Ruhr, das sind insgesamt 53 Städte. Ist das ein Hindernis?

Weimann: Wenn jemand von draußen auf die Region schaut, dann versteht sowieso niemand die Zergliederung – und ähnlich verhält es sich in der Start-up-Szene. Niemanden interessieren Stadtgrenzen! Es geht darum, die besten Partner zu finden, und dies ist aufgrund der engen Vernetzung jetzt möglich. Wir haben doch den riesigen Vorteil, dass flächenmäßig alles dicht beieinander liegt, Hochschulen, Institute, Start-up-Center, Kunden und Märkte. Die Start-up-Szene lebt die Metropole Ruhr!

Welche Rolle spielt dabei die Kulturlandschaft entlang der Ruhr?

Weimann: Museen, Konzerthäuser, Galerien, Restaurants, Industriedenkmäler usw. – das ist alles wirklich nett, interessiert die Start-up-Szene aber rein gar nicht. Das wird interessant für innovative Unternehmen im Wachstum, die sich nicht mehr aus dem persönlichen Netzwerk bedienen können und gute Leute national und international anwerben müssen. Diese Mitarbeiter wollen ein lebenswertes Umfeld, neben einer megaspannenden Herausforderung im Job.

Gründer von Start-ups ticken da erstmal anders. Da geht es um die Nähe zu Gleichgesinnten, zu potenziellen Kunden und zu Investoren, um die erste Finanzierung unbürokratisch organisieren zu können, und darum, Ideen zu challengen und den Proof-of-Concept herbeizuführen. Jeder Gründer investiert ja vor allem Lebenszeit in die Idee, also geht es um eine schnelle Verifizierung des Marktpotenzials. Und natürlich geht es auch um einen Freiraum, in dem sich die Start-up-Kultur entwickeln kann. Und genau diese Faktoren bilden sich in der Metropole Ruhr derzeit heraus.

Wie finden Neulinge Zugang zur Start-up-Szene?

Weimann: Es gibt richtig viele Anlaufstellen, wie den ruhr:HUB, die Gründungsinitiativen an den Hochschulen oder die Wirtschaftsförderungen. Das Highlight im Start-up-Jahr ist natürlich der RuhrSummit, dieses Jahr am 29. und 30. Oktober. Das Event gehört mittlerweile zu den Top-drei-Start-up-Events in ganz Deutschland, was natürlich auch die großen Investoren anlockt. Wer die Szene treffen will, wird es schwer haben, sie zu verfehlen.

Zur Person:

Oliver Weimann startete seine Karriere in der Unternehmensberatung und gründete sein erstes digitales Start-up im Jahr 2007. Parallel entwickelte er diverse digitale Geschäftsmodelle und half internationalen Wachstumsunternehmen beim Markteintritt in Deutschland. Mit der 360 Online Performance Group investiert er sehr frühphasig in B2B-Start-ups und initiierte den RuhrSummit, das B2B-Start-up-Event in Deutschland.

Überdies berät Oliver Weimann etablierte Unternehmen methodisch und operativ bei ihrer digitalen Transformation und verknüpft sie mit Start-ups, um konkrete Mehrwerte für beide Seiten zu generieren. Als Geschäftsführer des ruhr:HUB unterstützt er im Auftrag des Wirtschaftsministeriums und sechs Städten des Ruhrgebiets die regionale Start-up-Community und hilft regionalen Start-ups beim Wachstum.

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